Eine Lichtung: Menschen treten heraus aus dem Dickicht, kommen aus verschiedenen Richtungen, treten ins Freie, sehen den weiten Himmel über sich, begegnen sich. Am Vorabend des Reformationsfestes wurde die Bremer Marktkirche Unser Lieben Frauen zu einer solchen Lichtung. Menschen begegneten sich bei Jazz, hörten Texte und Gedanken zum Thema Licht und Lichtung und staunten über die Erhabenheit und Weite der Stadtkirche in neuem Licht.
Stephan Kreutz (Konzept), Mario Haunhorst (Texte), Agita Rando, Thomas Milewski (Jazz an Flügel und Bass)
#kircheleuchtet
Leseprobe „Lichtungen“ 30.11.2021
Für die Rats- und Marktkirche Unser Lieben Frauen in Bremen schuf der Maler Alfred Manessier von 1966 bis 1979 ein monumentales Kunstwerk aus etwa 15000 mundgeblasenen bunten Antikglasscheiben. Es gilt als eins der ersten und bedeutendsten Beispiele nicht gegenständlicher Glaskunst in Europa.
Während Manessier damals ausführte, der Raum brauche ein Licht, das singe, legte der langjährige Bremer Superintendent Gottfried Sprondel Licht und Farbe als "Reflexe auf das geistliche Geschehen" aus.
Stellen sie sich mal vor, drei Menschen stehen hier an einem sonnigen Vormittag und betrachten das im Sonnenlicht leuchtende Pfingstfenster …
Der eine sieht die Schönheit des Lichts, das sich in den bunten Farben bricht und lässt sich bezaubern. Sinnlich. Gegenwärtig. Den Moment füllend. Schön.
Vielleicht macht er ein Foto und schickt dies mit diesem Gefühl und ganz viel Herz per Smartphone in die Welt : „Hey, seht, das sehe ich gerade, ich fühl mich gut, ich habe Spaß!“ Diese mitgeteilte Impression, dieser Eindruck als besonderer Moment ist doch genug, oder?
Für die meisten passt das. Ein hochherziger Augenblick eben. Ich nenn das mal so: Dieser Mann betrachtet die Welt mit dem „Ersten Auge“.
Eine Frau steht daneben und sieht dasselbe Phänomen. Sie schaut ganz anders. Analytischer. Vielleicht ist sie Raumfahrtingenieurin. Technische und wissenschaftliche Fragestellungen bewegen sie. Sie denkt über Zyklen und Rotation von Planeten und Sternen nach, über Sonnenstände, Lichteinfallswinkel und wie wechselnde Farbspektren Lichteindrücke verändern. Sie hat Ideen, die sie mit dem Phänomen sehend in Verbindung bringt. Diese Frau sieht praktisch mit einem Zweiten Auge.
Hinter den beiden streifen die Lichtstrahlen die Augen eines weiteren Mannes. Der sieht auch mit seinen beiden Augen, aber über das Sehen und Erfassen gelingt es diesem Menschen, sich seine ganze Welt gelöst und souverän ganz tief im Augenblick zu vergegenwärtigen. Er spürt, verweilt und staunt und schweigt vor dem grundgebenden Geheimnis, das wir Christen Gott nennen, spürt darin den Zusammenhang der Welt und der unfassbaren Weite des geistigen Raums, in dem er seine Existenz zu erfassen sucht. Alles hängt für ihn zusammen. Er hat, um im Bild zu bleiben, ein Drittes Auge und spürt dem eigentlichen Ziel allen Sehens und Erkennens nach. Hellwach und geistesgegenwärtig. Vielleicht erfasst ihn angesichts des schimmernden Lichts sogar ein wenig vom Erlebnis des Pfingstwunders, von dem Alfred Manessier sich inspirieren liess. Das berührt ihn im Hier und Jetzt.
Der Blick macht den Unterschied. Wer neben dem ersten und zweiten Auge auch mit dem dritten Auge schaut, ist nicht besser oder schlechter als andere, aber besser dran, weil er mehr sieht. So sehen zu können ist wie ein Geschenk. Und das führt im besten Fall zu einem auf Ganzheit hin angelegten Bewusstsein.
Die damit verbundene Auseinandersetzung führt zu einem zuversichtlichen Aufwachen und Freisetzen von Fantasien und Erträumen von Lösungen…und in der Folge zu innerer Freiheit…
… mit kreativen und selbstverantworteten Zugängen zu Quellen sinnvollen Lebens ... und spielerischen Lösungswegen… mit der Kunst einer hochgradig feinsinnigen Wahrnehmung… ermöglicht dies ein Annehmen von Veränderungsprozessen und dem Nicht-Perfekten als Normalzustand…aus dem neue Ziele und Möglichkeiten entstehen.
Wir können diesen Blick auch einen mystischen Blick nennen. Der reicht bis hinein in die tiefsten inneren Erfahrungsschichten. Dieses Sehen mit dem Dritten Auge eröffnet eine tiefere Dimension der Wirklichkeit. Das schafft vielleicht sogar ein Gefühl der Verbundenheit mit dem ganzen Kosmos und seinen Gegebenheiten, Gewissheiten und Ungewissheiten - nicht nur beim Betrachten des Pfingstfensters, sondern in jedem Moment.